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„MS ist kein Stigma und kann jeden betreffen“

Markus Reindl (r.) leitet das Forschungslabor der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck,.Der Neuroimmunologe Harald Hegen (l.) forscht seit mehr als zehn Jahren an der Medizinischen Universität Innsbruck zu MS.

„MS ist kein Stigma und kann jeden betreffen“

Markus Reindl (r.) leitet das Forschungslabor der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck,.Der Neuroimmunologe Harald Hegen (l.) forscht seit mehr als zehn Jahren an der Medizinischen Universität Innsbruck zu MS.

Bei Multipler Sklerose zerstören Immunzellen die Isolationsschicht der Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark. Zunehmende Behinderungen sind die Folge. Die Erkrankung betrifft immer mehr junge Menschen. Markus Reindl und Harald Hegen, MS-Experten an der Medizinischen Universität Innsbruck, berichten im Interview über Forschungsfortschritte wie neue Biomarker und Immuntherapien, die den Betroffenen zu besserer Lebensqualität verhelfen.

Am 30. Mai ist Welt-MS-Tag. In Österreich sind schätzungsweise 14.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. Wie steht es in der Bevölkerung um das Bewusstsein für die Erkrankung?

Markus Reindl: Autoimmunerkrankungen sind generell Erkrankungen, die viel zu wenig beachtet, ja sogar sträflich vernachlässigt werden. In Großbritannien ist bereits jede/r Zehnte von einer Autoimmunerkrankung betroffen, wie eine Studie im Fachjournal Lancet gerade gezeigt hat. Das sind wirklich sehr viele Menschen, und dabei sind nur die häufigsten Autoimmunerkrankungen einbezogen. Es ist unbedingt mehr Bewusstsein und auch mehr Geld für Forschung und Therapie notwendig. Autoimmunerkrankungen wie MS, Typ 1 Diabetes und auch Formen von Rheuma beginnen bereits in sehr jungen Jahren. Die Betroffenen verbringen ihr ganzes Leben damit, man muss sie im Arbeitsprozess halten und ihnen eine gute Lebensqualität ermöglichen. MS ist kein Stigma. Autoimmunerkrankungen können jeden betreffen.

Harald Hegen: Ich denke, wir können mittlerweile ein anderes Bild der MS zeichnen. Früher hat man die Erkrankung unweigerlich mit deutlicher Gehbehinderung und Rollstuhl in Verbindung gebracht. Es hat sich aber gerade in den vergangenen zehn Jahren sehr viel auf dem Gebiet getan. Durch neue Entwicklungen, wie etwa die Immuntherapien, haben PatientInnen heutzutage eine bessere Prognose. PatientInnen mit MS können ein aktives Leben, im Beruf als auch mit Familie, führen. Es gibt grundsätzlich nichts, was man mit MS nicht tun darf.

Was passiert bei Multipler Sklerose?

Reindl: Nach derzeitigem Stand der Wissenschaft gehen wir davon aus, dass es durch einen externen Faktor, wie einer Infektion, zu einer Überregulierung des Immunsystems kommt. Immunzellen, die normalerweise im Gehirn nichts zu tun haben, dringen dann ins Gehirn ein und greifen die Myelinscheide an. Das ist die Isolationsschicht der Nervenfasern. Damit kommt es zu einer verringerten Signalweiterleitung, in weiterer Folge zur Zerstörung der Nervenfasern und damit zum neurologischen Defizit. Am Beginn der Erkrankung kommt es immer wieder dazu, dass Immunzellen in das Gehirn einwandern. Ab einer bestimmten Phase der Erkrankung, die in der Regel durch das Alter determiniert ist – zwischen 40 und 50 – verselbständigt sich diese Entzündung im Gehirn mit den Immunzellen, die schon im Gehirn sitzen. Auch durch den generellen Alterungsprozess werden die Reparaturfähigkeit und die Kontrolle des Immunsystems schlechter.

Hegen: Je nachdem in welchen Arealen des Gehirns oder im Rückenmark diese Prozesse ablaufen, entwickeln die PatientInnen unterschiedliche Symptome. Zu den typischen Beschwerden gehören Sehstörungen, Doppelbilder und Sensibilitätsdefizite. Im weiteren Verlauf können auch Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen, Gehbehinderung sowie kognitive Beeinträchtigungen entstehen. Am Beginn der Erkrankung können sich Beschwerden, die in Form von Schüben auftreten, häufig noch gut zurückbilden. Mit zunehmender Krankheitsdauer steigt das Risiko, dass neue Beschwerden permanent bestehen bleiben.

 Wie erklären Sie die Zunahme von Autoimmunerkrankungen, insbesondere der MS?

Reindl: Das ist noch nicht gänzlich geklärt. Ein Grund ist sicher, dass wir heute verfeinerte diagnostische und klinische Kriterien haben. Dadurch diagnostizieren wir heute mehr, genauer und frühzeitiger. Das bedeutet auch, dass wir heute schon viel früher mit der Therapie beginnen können, wo damals die Entzündung unbemerkt über Jahre weitergebrannt ist.

Das klingt auch nach einer guten Nachricht. Gibt es weitere gute Botschaften?

Hegen: Die gute Nachricht ist, dass die neueren Immuntherapien deutlich wirksamer sind und damit der Krankheitsverlauf positiv beeinflusst werden kann. Somit kann das Auftreten von Schüben sowie die Entwicklung einer permanenten Behinderung reduziert werden. Eine geringe Symptomlast spiegelt sich natürlich auch in einer höheren Lebensqualität von unseren PatientInnen wider. Grundsätzlich gilt: Je früher man mit einer Therapie beginnt, desto besser kann man das Fortschreiten der Erkrankung bremsen. Seit kurzem ist zumindest auch für einen Teil der schon deutlich fortgeschrittene PatientInnen, die sich im so genannten sekundär chronisch progredienten Krankheitsverlauf befinden, eine wirksame Immuntherapie zugelassen.

Reindl: In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass es in den letzten Jahren gelungen ist, auch andere seltene MS-ähnliche Erkrankungen, wie v.a. die Neuromyelitis optica Spektrumerkrankung oder MOG-Antikörper assoziierte Erkrankung zu definieren, die einen anderen Krankheitsverlauf haben und auch andere therapeutische Maßnahmen bedingen als MS. Das hilft natürlich allen drei Gruppen, weil die seltenen Erkrankungen schlechter auf die MS-Medikamente ansprechen und vice versa. Was auch wichtig ist: Es kommt immer mehr zu einer individualisierten Therapie. Man versucht Biomarker zu finden und die PatientInnen entsprechend dieser Biomarker auf Therapien einzustellen.

Wie aktuell ist das Epstein-Barr-Virus (EBV) als mögliche Ursache der Erkrankung?

Hegen: Die Ursache der MS ist bis dato nicht geklärt. Man kennt aber Risikofaktoren für die Entwicklung der Erkrankung, neben genetischen auch sogenannte Umweltfaktoren wie EBV. Vor etwa einem Jahr hat eine große US-Studie zeigen können, dass fast alle Menschen, die MS entwickeln, zuvor eine EBV-Infektion durchmachen. Wenngleich EBV auch bei ungefähr 90 Prozent in der gesunden Bevölkerung vorkommt, ist eine so genannte EBV Serokonversion häufiger bei MS zu beobachten und insbesondere in den Jahren bevor die ersten Beschwerden auftreten. Diesen Zusammenhang kennt man schon länger. Auch das häufigere Auftreten der infektiösen Mononukleose (Pfeiffer’sches Drüsenfieber, schwerere Form der EBV-Infektion im Jugendalter, Anm.) bei Menschen die später eine MS entwickeln, kennt man schon länger. Er ist uns durch diese Arbeit wieder frisch ins Bewusstsein gerufen worden. Man muss aber klar betonen: Es handelt sich hierbei letztlich um eine Assoziation, also einen Zusammenhang, der nicht eine Ursächlichkeit per se beweist, sondern einen Faktor darstellt, der mit einem häufigeren Auftreten von MS verbunden ist. So gibt es beispielsweise auch Assoziationen mit niedrigeren Vitamin D-Werten, die aber auch bei vielen anderen Erkrankungen beobachtet werden, und somit nicht spezifisch für die MS sind.  

Reindl: Zudem gibt es bei MS eine Reihe von genetischen Risikovarianten, welche für sich allein die Ursache der Erkrankung auch nicht erklären. Paradebeispiel sind die eineiigen Zwillinge: Wenn eines der beiden Geschwister MS bekommt, liegt das Risiko, dass der andere Zwilling ebenso erkrankt bei 30 Prozent. Wenn es eine komplett genetische Erkrankung wäre, dann wären beide betroffen. Das ist nicht der Fall. Es braucht zusätzlich einen auslösenden Umweltfaktor um MS zu entwickeln. Das kann z.B. eine EBV-Infektion sein, das kann auch in Zusammenhang mit Vitamin D sein. Es gibt Studien aus Norwegen, wo gezeigt wurde, dass Menschen, die an den Meeresküsten leben und viel Fisch essen, ein geringeres Risiko haben, als jene, die im Landesinneren leben und mehr Fleisch essen. Erkrankungen wie die MS entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel von Umweltfaktoren, Genetik und Lebensalter.

MS tritt in jungen Jahren auf. Ist man, wenn man die 40 überschritten hat, davor gefeit?

Reindl: Das ist eine Sache der Statistik. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen 20 und 30, frühere oder spätere Erkrankung ist möglich, aber weniger wahrscheinlich. Allerdings ist bekannt, dass sich die Krankheitspräsentation mit dem Alter verändert. Junge PatientInnen haben eher einen schubhaften Verlauf, der durch Phasen zunehmender Beschwerden und letztlich über die Jahre zunehmende Behinderung gekennzeichnet ist. Ab einem bestimmten Alter, zwischen 40 und 50, wird es eher ein schleichender Krankheitsverlauf, bei dem es keine ausgeprägten Schübe mehr gibt. Dieser so genannte primär progrediente Verlauf betrifft rund 15 Prozent der MS PatientInnen.

Hegen: Besonders hervorzuheben ist, dass in jedem Alter für die Diagnose MS jedenfalls die Beschwerden der PatientInnen durch eine sorgfältige klinische Untersuchung erfasst werden müssen, um sie dann mit den Befunden aus der MRT und der Untersuchung des Nervenwassers in Verbindung zu bringen. Die richtige Diagnosestellung ist die Grundlage jeder weiteren Beratung und Behandlung, die unterschiedliche, auch höchst individuelle Aspekte wie die Familienplanung berücksichtigen soll.  

Inwieweit kann man Verlauf und Krankheitsaktivität einschätzen?

Hegen: Die Biomarkerforschung ist einer der Schwerpunkte in Innsbruck. Wir arbeiten daran, Biomarker zu identifizieren, einerseits um Einblicke in die Pathophysiologie der Erkrankung zu erhalten, andererseits um sie für die Diagnose als auch für Prognose zu verwenden. Unter Einbeziehung der Klinik, der Bildgebung und von Biomarkern, die wir aus dem Nervenwasser oder dem Blut gewinnen, ist es möglich, die PatientInnen sehr gut zu charakterisieren. Es gibt drei Biomarker, die aktuell besonders im Rennen sind. Wir sind bei allen an der Forschung beteiligt, bei einem sogar federführend. Das sind die kappa-freien Leichtketten (κ-FLC), die insbesondere die entzündliche Komponente der MS abbilden. In einer rezenten Arbeit konnten wir das individuelle Risiko von MS PatientInnen bereits zum Zeitpunkt der ersten Beschwerden damit sehr gut aufzeigen. Und kürzlich konnten wir zeigen, dass die Kombination mit dem Biomarker Serum Neurofilament Light die Einschätzung der Krankheitsaktivität noch weiter verbessert. κ-FLC sind sehr zuverlässig und werden jetzt in die klinische Routine eingeführt. Es sind allerdings auch noch ein paar Fragen offen. Deshalb ist gerade ein weiteres, prospektives und von uns koordiniertes multizentrisches Projekt angelaufen.

Reindl: Das Biomarker-Projekt ist das Hauptprojekt von Harald Hegen. Wir im neurologischen Forschungslabor versuchen eine immunologische Feincharakterisierung von MS und verwandten Autoimmunerkrankungen zu machen und molekulare Marker zu definieren, um sie besser zu unterscheiden und zu verstehen, wie das Immunsystem bei diesen Erkrankungen dereguliert ist. Das Ziel ist, am Menschen zu lernen. Die Tiermodelle, die zur Verfügung stehen, sind leider unzureichend, um alle Aspekte der MS zu verstehen. Am Ende des Tages geht es darum, personalisierte, individualisierte Medizin anzubieten, wenn man diese molekularen Marker irgendwann auch einfließen lassen kann. Das ist sehr wichtig, weil die Medikamente immer besser, und auch immer teurer werden. Es wäre daher ideal, wenn man von vornherein wissen könnte, welche PatientInnen auf welchen Wirkstoff ansprechen.

Woran wird noch in Innsbruck geforscht?

Hegen: Wir sind insgesamt breit aufgestellt. Neben Biomarker-Forschung kommt unter anderem auch klassischer klinischer Forschung eine besondere Bedeutung zu. Seit einigen Jahren beschäftigen wir uns mit Begleiterkrankungen von MS. Es geht nicht nur um MS selbst, sondern z.B. um ein erhöhtes Infektionsrisiko, das z.T. durch die Therapien bedingt ist, die das Immunsystem unterdrücken. Es gibt bestimmte Infektionsrisiken, die man etwa durch Impfungen verhindern kann. Wir haben erstmals in Österreich, den Impfstatus und das Impfverhalten von MS-PatientInnen systematisch erhoben, um so Defizite im Impfverhalten erkennen zu können und durch Beratung zu verbessern. Bei Frauen in etwas fortgeschrittenerem Alter haben wir den Hormonstatus untersucht und das Osteoporose-Risiko eingeschätzt. Denn aufgrund der eingeschränkten Gehfähigkeit und der verminderten körperlichen Aktivität bekommen MS-Patientinnen häufig früher eine Osteoporose. Es gibt auch Studien mit nicht-medikamentösen Interventionen. Das ist ein wichtiger Aspekt, wenn PatientInnen bereits körperliche oder kognitive Einschränkungen haben. Symptome, wie verminderte Gehfähigkeit, Spastizität, Blasenfunktionsstörung können durch symptomatische Therapie, Ergo- und Physiotherapie verbessert werden. In Innsbruck nehmen wir zudem regelmäßig an Phase-3-Therapiestudien teil, sodass wir unseren PatientInnen die neuesten Substanzen anbieten können.

Reindl: Wir machen das lokal vor Ort und sind auch in zahlreiche nationale und internationale Netzwerke eingebunden.

Welche MS-Mythen kursieren?

Hegen: Ich habe den Eindruck, dass die Mythen weniger geworden sind. Früher hat es Mythen gegeben, dass Frauen mit MS keine Kinder kriegen sollen, dass PatientInnen keine Narkose erhalten dürfen oder, dass Impfungen MS auslösen. Es gibt eine sehr gute Datenlage, die zeigt, dass dies alles Mythen sind. Mit MS darf man im Prinzip alle Dinge des normalen Lebens machen, wie jeder andere Mensch auch.

Reindl: Es gibt auch keine speziellen Ernährungsempfehlungen und Angebote, wie das so genannte Coimbra-Protokoll sind mit Vorsicht zu genießen. Da wird viel Schindluder getrieben. 

Was können PatientInnen selber beitragen, damit es ihnen möglichst lange gut geht?

Hegen: Ganz entscheidend ist, die Immuntherapie früh in Anspruch zu nehmen, damit das Auftreten von Schüben hintangehalten werden kann und das Risiko einer permanenten Behinderung vermindert werden kann. Sollten bereits dauerhafte Einschränkungen vorliegen, kommt auch der nicht-medikamentösen Behandlung sprich Physio- und Ergotherapie ein besonderer Stellenwert zu. Ansonsten gilt regelmäßige Bewegung, ausgewogene Ernährung, um möglichst ein Normalgewicht zu halten und nicht zu rauchen. PatientInnen mit MS sollen unbedingt aktiv bleiben.

Reindl: Die Österreichische MS Gesellschaft (ÖMSG) steht allen Betroffenen mit Rat und Selbsthilfeangeboten zur Verfügung und ist sehr bemüht und engagiert.

24. Mai 2023 | AutorIn: top.tirol Redaktion | Foto: MUI/D. Bullock

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