Transplantationen sind Rennen gegen die Zeit: Mit jeder Minute, die ein Organ außerhalb des Körpers zubringt, steigen die Risiken von Komplikationen. Gerald Brandacher hat eine Technik mitentwickelt, die Transplant-Teams und -EmpfängerInnen bald wertvolle Stunden verschaffen könnte – und arbeitet nun an der MedUni Innsbruck an ihrer Perfektion.
Ab dem Moment, in dem ein Spenderorgan entnommen wird, beginnt die Uhr zu ticken: Noch während der Operation werden Proben ent- und Tests vorgenommen, deren Resultate mit der EmpfängerInnen-Datenbank abgeglichen werden. Sobald dort jemand mit hoher Kompatibilität gefunden ist, wird er oder sie informiert und abgeklärt, ob der Eingriff stattfinden kann. Zugleich setzt sich die Logistik-Kette in Bewegung, um das Organ so schnell wie möglich an sein Ziel zu bringen. Ist der oder die Erstgereihte nicht erreichbar oder fällt aus anderen Gründen aus, kommt die nächste Person auf der Liste zum Zug – solange, bis das Organ eine Empfängerin oder einen Empfänger gefunden hat, oder, bis die Uhr abgelaufen ist und das dringend benötigte Transplantat nicht mehr implantiert werden kann.
Vier bis 24 Stunden
Dieses Zeitfenster ist oft verschwindend klein. „Ein Herz kann bis zu vier Stunden nach der Entnahme transplantiert werden”, erklärt Gerald Brandacher, Transplantationschirurg an der Medizinischen Universität Innsbruck. „Bei einer Niere haben wir zwar bis zu 24 Stunden Zeit. Die Funktion und damit auch die Erfolgschancen nehmen aber nach 16 Stunden dramatisch ab.” Das Problem, mit dem die MedizinerInnen kämpfen, ist die Sauerstoff- und Nährstoff-Unterversorgung. Je länger das Organ von der Blutzufuhr abgeschnitten ist, umso mehr seiner Zellen nehmen Schaden. Und ist einmal eine kritische Masse überschritten, kann sich das Gewebe auch in einem neuen Körper nicht mehr erholen.
Gefrierbrand
Um das so lange wie möglich hinauszuzögern, werden Transplantate in einer gekühlten Nährlösung gelagert und transportiert. Aus ihr können die Zellen zumindest einen Teil der nötigen Stoffe beziehen. Zugleich verlangsamt die niedrige Temperatur den Stoffwechsel und damit den Sauerstoff- und Nährstoff-Bedarf. Allerdings gibt es bei der Technik eine harte Grenze. „Organe werden auf zwischen 0 und 4 Grad Celsius gekühlt”, meint Brandacher. „Sinkt die Temperatur weiter, entstehen sowohl an, als auch in den Zellen Eiskristalle. Diese dehnen sich zum einen aus, zum anderen bilden sie spitze Strukturen – und beides zerstört die Zellen.”
Natürlicher Frostschutz
Dieser Effekt macht nicht nur MedizinerInnen zu schaffen. Auch Organismen wie Fische, Amphibien oder Nagetiere, die in besonders kalten Regionen leben, stehen vor derselben Herausforderung. Doch sie haben im Laufe der Evolution Mechanismen entwickelt, die es ihnen erlauben, ihre Körpertemperatur nicht nur bis zum, sondern sogar unter den Gefrierpunkt sinken zu lassen, bis sie regelrecht einfrieren – und mit gesunden und voll funktionsfähigen Organen wieder aufzutauen. Diese Fähigkeit verleihen ihnen sogenannte Anti-Freeze-Peptide, Aminosäure-Verbindungen die über einen „Frostschutz”-Faktor verfügen. Und an der Erforschung und Synthetisierung dieser Stoffe hat Brandacher in den vergangenen 15 Jahren an der Johns Hopkins Universität in den USA gearbeitet.
„Weiches” Eis
„Antifreeze-Peptide besitzen zwei Funktionsmechanismen”, sagt Brandacher. Zum einen entziehen sie den Zellen Flüssigkeit, sodass die Ausdehnung von Eis sie nicht ‚sprengt’. Zum anderen ändern sie die Form des Eises. Anstelle von den spitzen Strukturen entstehen beim Gefriervorgang dann runde Formen, die weniger gewebsschädigend sind. „Man kann das ein wenig mit Speiseeis vergleichen: Ein italienisches Gelato, das im Mund sehr weich ist, hat runde, kleine Kristalle. Billiges Eis mit einem hohen Wasseranteil dagegen große mit vielen Spitzen. Das spürt man auf der Zunge und hört es knirschen, wenn man hineinbeißt.”
Kalt, kälter, Supercooling
Damit die Peptide ihre Wirkung entfalten können, werden die Organe erst in einer mit ihnen versetzten Nährlösung gespült und dann darin gelagert. So können sie deutlich weiter gekühlt werden – auf minus 5 oder sogar minus 10 Grad Celsius. Und der Erfolg dieser Technik, die als „Supercooling” bezeichnet wird, ist durchschlagend: „Im Kleintiermodell konnten wir eine 100-prozentige Erfolgsquote bei Transplantationen von Herzen verzeichnen, nachdem sie 24 Stunden gelagert worden sind”, berichtet der Experte. „Bei Nieren waren sogar 120 Stunden möglich. Und nach dem Auftauen waren die Organe in einem Zustand, vergleichbar mit dem eines frisch entnommenen Organs.”
Optimierungspotenzial
Inzwischen hat sich die Technik auch im Großtier-Modell bewiesen und steht damit kurz davor, erstmals klinisch eingesetzt zu werden. Bevor es so weit ist, soll sie aber noch optimiert werden. „Die Geschwindigkeit, mit der Gekühlt und aufgetaut wird, unter welchem Druck und mit welchem Volumen ein Organ gespült wird und mehr sind bislang noch nicht angepasst worden, meint Brandacher. „Optimieren wir diese Faktoren generell und zusätzlich auf spezifische Organe, lassen sich die Ergebnisse mit Sicherheit noch einmal verbessern.”
Passgenau
Die gewonnene Zeit hilft EmpfängerInnen gleich auf mehrere Arten. „Aktuell werden mehr als 20 Prozent aller transplantablen Organe abgelehnt, weil sie nicht schnell genug zu ihrem Empfänger gelangen können”, weiß Brandacher. Insbesondere wenn der oder die Erstgereihte das Transplantat nicht erhalten könne, reiche die Zeit oft nicht aus, um es zu jemandem anderen zu transportieren. Und auch geografische Distanzen verlieren mit mehr Zeit an Relevanz.
Zugleich kann durch die Verdrei- bis Verfünffachung der Zeitspanne auch das Matchmaking dramatisch verbessert werden. Die Transplantteams erhalten wertvolle Zeit für zusätzliche Tests bis auf den genetischen Level. „So können nicht nur mehr Organe transplantiert werden– die Erfolgschancen steigen auch deutlich, insbesondere, was den langfristigen Ausgang betrifft. Und das bedeutet auch, dass schlussendlich mehr Organe zur Verfügung stehen werden.”
Zeit für mehr
Einen massiven Fortschritt wird Supercooling aber vor allem in der Kombination mit anderen, bereits etablierten Technologien mit sich bringen, die bisher aufgrund des Zeitdrucks wenig oder gar nicht zum Einsatz gekommen sind, ist Brandacher überzeugt: „Wir erziele bereits jetzt mit der sogenannten Toleranzinduktion große Erfolge.” Dabei werden den EmpfängerInnen vor der Transplantation Immunzellen des Spenders oder der Spenderin implantiert. Weil es einige Tage dauert, bis sich diese einnisten, kommt diese Technik bislang nur bei Lebendspenden zum Einsatz. Gelingt der Eingriff, verfügen die EmpfängerInnen gewissermaßen über zwei Immunsysteme, von denen eines das neue Organ bereits kennt und nicht als körperfremd einstuft. Damit können Abstoßungsreaktionen stark reduziert werden – mitunter so weit, dass ihr Immunsystem nur anfänglich und nicht mehr lebenslang mit Medikamenten unterdrückt werden muss. Das steigert die Lebensqualität enorm und vermeidet auch die zahlreichen Nebenwirkungen und Risiken, die diese Pharmazeutika mit sich bringen.
Lebend-Transport
Eine weitere Technologie, die Hand in Hand mit Supercooling geht, ist die Maschinenperfusion, die ebenfalls maßgeblich in Innsbruck mitentwickelt worden ist und wird. Dabei werden Organe nicht „im Stillstand” gelagert und transportiert. Stattdessen wird ihre Funktion künstlich aufrechterhalten. Elektrische Impulse regen Muskeln zur Bewegung an, Herzen pumpen während des Transports sauerstoffhaltige Nährlösungen anstelle von Blut, Nieren filtern und mehr. Das könnte den MedizinerInnen nicht nur noch einmal mehr Zeit verschaffen, sondern gibt ihnen auch die Möglichkeit, Organe außerhalb des Körpers mit Medikamenten zu behandeln und so perfekt vorzubereiten.
Zukunfts-Visionen
Längerfristig, glaubt Brandacher, ebnen Entwicklungen wie Supercooling, Toleranzinduktion oder Maschinenperfusion und insbesondere ihre Kombination den Weg den internationalen Austausch von Spenderorganen zu einem globalen. „Das wäre heute, wo der Mangel an Transplantaten immer eklatanter wird, ein großer Schritt”, sagt er. Noch weiter in die Zukunft geblickt könnte damit aber auch der Grundstein für eine noch viel futuristischere Technologie: sogenannte Organbanken. „Das gehört heute noch absolut in den Bereich der Science-Fiction”, sagt Brandacher. „Aber gelingt es uns, den Organmangel zu überwinden, wäre es das langfristige Ziel, Spenderorgan dort längere Zeiträume einzulagern, um sie dann an EmpfängerInnen weiterzugeben, die die höchste Kompatibilität aufweisen, wenn sie gebraucht werden.”
Gerald Brandacher hat in Innsbruck Medizin studiert. Die vergangenen 15 Jahre hat er in den USA gelebt und an der Johns Hopkins Universität geforscht. Dort war er maßgeblich an der Entwicklung des Supercooling beteiligt. Seit Herbst 2023 ist der Transplantationsexperte zurück in Tirol und entwickelt die Technik an der Medizinischen Universität Innsbruck gemeinsam mit seinen amerikanischen Kollegen weiter.