Hochschulen sind Sammelbecken fachspezifischer Expertisen. Ein neues Lehrveranstaltungsformat an der Universität Innsbruck soll helfen, diese interdisziplinär zu bündeln, indem sie sie auf fachfremde, aber umso realere Probleme fokussiert und so zur Schaffung einer inklusiveren Gesellschaft beitragen.
Forschung, Entwicklung und die Ausbildung von ExpertInnen, die weiter forschen, weiter entwickeln und neue Erkenntnisse gewinnen: Das sind die Kernaufgaben jeder Universität. „So haben wir auch in Innsbruck in mittlerweile mehr als 350 Jahren unglaubliche Mengen an Wissen angesammelt“, berichtet Oliver Ott. Er hat an der Technischen Universität München studiert und ist mittlerweile Doktorand an der Professur für Fertigungstechnik an der der Universität Innsbruck. „Uns stehen Unmengen an spezialisiertem und fachspezifischem Know-how zur Verfügung. Das Problem, das wir haben – und das die Wissenschaft generell hat – ist es diese Expertise ‚auf die Straße‘ zu bringen.“ Denn in ihren eigenen Fachrichtungen sind die ForscherInnen höchst versiert. Doch bei der Anwendung dieses Wissens auf realweltliche Aufgaben geht oft viel Potenzial verloren. Anders als akademische Felder lassen sich praktische Probleme nämlich nur selten klar einem Fachbereich zuordnen. „Wir haben immer mehr SpezialistInnen“, meint Ott. „Leute, die sich wirklich, wirklich gut in ihren Gebieten auskennen. Aber auch wenn manche Institute nur ein Gang oder ein Stockwerk trennt, fehlt es oft an interdisziplinären Herangehensweisen.“
Echte Probleme
Dem begegnen Ott und seine KollegInnen seit vergangenem Jahr in einem neuen Lehrveranstaltungsformat. Mit dem Projekt Innklusion zäumen sie das Pferd von hinten auf. In der Masterlehrveranstaltung, die von der Universität Innsbruck mit einem Best Practice Award ausgezeichnet worden ist, geht es nicht darum, wie Zusammenarbeit am besten funktionieren könnte oder wie Synergien geschaffen werden. Stattdessen setzen sich die TeilnehmerInnen mit realen Herausforderungen realer Menschen auseinander und finden darin einen Knotenpunkt, um ihr Know-how zu verknüpfen. Um Aufgaben zu finden, die nicht aus dem Lehrbuch stammen und nicht auf einen Fachbereich zugeschnitten sind, arbeiten die Innklusion-InitiatorInnen mit Einrichtungen wie der fh gesundheit und dem Behindertenbeirat der Stadt Innsbruck zusammen. Über sie suchen sie Menschen mit Behinderungen, die bereit sind, von ihren Alltagsproblemen zu erzählen und dafür mit Innklusion Lösungen zu finden. „Das ist auf recht reges Interesse gestoßen“, erzählt Ott. „Im vergangenen Semester durften wir unter anderem mit einem Menschen im Rollstuhl, jemandem mit Locked-In-Syndrom und mit einer Person mit einem Arm zusammenarbeiten.“ Mittlerweile findet zudem auch regelmäßig das „Café der Ideen“ statt, um für informellen Austausch zwischen Studierenden, ExpertInnen und natürlich Menschen mit Behinderung zu sorgen.
Bunt gemischt
Deren Herausforderungen – wie zum Beispiel das Schneiden einer Karotte, ohne sie festhalten zu können, oder das einhändige Binden eines Pferdeschwanzes – werden zuerst in Interviews eruiert. Dann formieren sich die Teilnehmenden in mitunter abenteuerlichen Konstellationen verschiedener Fachbereiche zu Teams und begeben sich auf Lösungssuche. „Bei der ersten Lehrveranstaltung waren unter anderem Studierende aus den Sozialwissenschaften, der Mechatronik, Architektur, Erziehungswissenschaften und Ethnologie dabei“, erzählt Ott. Insgesamt verteilten sich auf die 20 freien Plätze Teilnehmende aus nicht weniger als 15 Fachrichtungen.
Mehr als Fachwissen
Damit verfügt jedes Team über eine einmalige Kombination unterschiedlicher Fähigkeiten und Perspektiven – und das nicht nur aufgrund der verschiedenen Spezialisierungen. „Man ist ja bei Weitem nicht nur das, was man im Studienfach lernt“, sagt der Ingenieur „Hobbies, persönliche Interessen und Erfahrungen sind genauso wichtig, prägend und wertvoll und können wichtige Beiträge leisten.“ Was die Teilnehmenden dagegen verbindet, ist ihre wissenschaftliche Herangehensweise. Und mit dieser machen sie sich daran, Lösungen zu entwickeln. Sei es ein Schneidbrett mit Klemmvorrichtung, das auch kleines Schneidgut festhalten kann, eine Kommunikationshilfe für Menschen mit Locked-In-Syndrom, die nur die Augen bewegen können oder eine Haltevorrichtung für eine Kamera für Rollstühle, die es erlaubt, selbständig Fotos und Selfies zu machen.
Und auch an weniger technischen Problemen wird gearbeitet. „Unter anderem stünde auch ein Konzept für eine ‚Stille Stunde‘ in Supermärkten ganz oben auf unserer To-Do-Liste“, meint Ott. Dabei werden für einen beschränkten Zeitraum und außerhalb der Stoßzeiten die Beleuchtungen in einem Geschäft gedimmt, keine Musik eingespielt und generell die Reizüberflutung so weit eingedämmt wie möglich, um AutistInnen, neurosensitiven Menschen das Einkaufen zu erleichtern.
Günstig, gut und maßgeschneidert
Beim Entwicklungsprozess selbst steht der Austausch im Vordergrund – sowohl zwischen den Team-Mitgliedern als auch mit den IdeengeberInnen: Alle zwei Wochen besprechen sie sich, stimmen sich ab, klären offene Fragen und optimieren die bisher gemachten Fortschritte. Und genau diese Feedback-Schleifen sind notwendig. Denn: „Es wäre eigentlich eine ganze Reihe Produkte für Menschen mit Behinderungen am Markt“, meint Ott. Diese seien jedoch oft nicht optimal auf die Anwendung und Bedürfnisse abgestimmt. „Man bekommt zum Beispiel Schneidbretter mit Nägeln, die das Schneidgut fixieren. Das funktioniert aber nur bei weichem Gemüse wirklich.“
Ein zusätzliches Problem bei kommerziellen Produkten ist zudem oft der Preis. Die meist kleinen Absatzmärkte machen die Lösungen oft sehr teuer. „Eine Kommunikationshilfe für Menschen mit Locked-In-Syndrom verbaut ist, kostet gut und gerne 800 Euro. Uns hat es wenige Wochen gekostet, so ein System nachzubauen – aus frei verfügbaren Teilen für etwa 50 Euro.“
Für eine bessere Welt
Die Lösungen, die bei Innklusion entstehen, sollen so nicht nur individuell angepasster und damit besser sowie leistbarer sein. Sie sollen auch allen zur Verfügung stehen. Das Projekt verfolgt einen ganz klar definierten Non-Profit-Ansatz. Baupläne, CAD-Dateien und mehr werden kostenlos veröffentlicht und können dank Technologien wie 3D-Druck von jedem repliziert und bei Bedarf auch adaptiert werden. „So schafft die Vorlesung auch einen sozialen Mehrwert“, erklärt Ott. Und darauf komme es schlussendlich an: „Menschen mit Behinderungen auf Augenhöhe zu begegnen und Inklusion zu fördern. Und zugleich Studierenden die Erfahrung zu ermöglichen, ihr gesamtheitliches Wissen und ihre Fähigkeiten zu kombinieren und einzubringen, um das Leben von Menschen zu verbessen. Denn das ist es schlussendlich, wozu Wissenschaft da sein sollte.“
Oliver Ott hat an der Technischen Universität München Maschinenwesen studiert und sich im Rahmen seines Masterstudiums mit den Bereichen Medizintechnik sowie Assistenzsystemen und Robotik befasst. Seit 2021 ist er als Doktorand am Institut für Fertigungstechnik an der Universität Innsbruck tätig und ist seit Herbst 2023 einer der Leiter des Projekts Innklusion.