Wer hätte gedacht, dass Pilze mehr als nur kulinarische Delikatessen sein könnten? Ein dichtes Geflecht unter der Erde, das sogenannte Myzel, birgt vielversprechende Möglichkeiten für einen CO2-neutralen Werkstoff, der die Forschung beschäftigt.
Wer an Pilze denkt, dem fallen wahrscheinlich zuerst schmackhafte Pfifferlinge und Steinpilze ein. Doch dabei handelt es sich lediglich um den sichtbaren Fruchtkörper des Pilzes. „Dem Auge verborgen bleibt ein dichtes, dreidimensionales Geflecht unter der Erde, der eigentliche Pilz, auch Myzel genannt“, beschreibt Barbara Imhof, Professorin für Integratives Design Extremes an der Universität Innsbruck. Die Forschung hat bereits seit längerem erkannt, dass dieses Geflecht großes Potenzial als nachhaltiges Material für verschiedenste Anwendungen bietet. Ein kürzlich gestartetes, vom Land Tirol gefördertes Projekt der Universität Innsbruck mit dem Namen Muse – kurz für Mycelium Seat, also Mycel-Sitz/Stuhl, zielt nun darauf ab, aus diesem natürlichen Material Möbel zu entwickeln.
Das Pilzgeflecht
Aber nochmal genauer: Das Myzel ist die Gesamtheit aller fadenförmigen Zellen von sogenannten höheren Pilzen. In unserem Sprachgebrauch wird jedoch nur der sichtbare Fruchtkörper als Pilz bezeichnet, der Sporen zur Fortpflanzung produziert, während der eigentliche Organismus aus diesem unterirdischen Geflecht besteht.
Das Pilzgeflecht ernährt sich von Wasser und organischen Substraten wie Holz- oder Getreideresten und produziert in kurzer Zeit ein weiches, schwammartiges und rein natürliches Material. In Kombination mit anderen organischen Stoffen beispielsweise Karton oder Baumwolle entsteht ein nachhaltiger, nachwachsender und energieneutraler Baustoff. Seine vielfältigen physikalischen und mechanischen Eigenschaften ermöglichen ein ebenso breites Anwendungsspektrum.
In den letzten Jahrzehnten haben WissenschaftlerInnen entdeckt, dass der Wachstumsprozess des Myzels beeinflussbar ist. Denn wenn Pilze in speziellen Gefäßen wachsen, nehmen sie deren Form an. Während anfangs einfache, quadratische Strukturen verwendet wurden, experimentiert man mittlerweile mit deutlich komplexeren Designs. So findet das Material bereits Anwendung in Bereichen wie Verpackungen, Baustoffen, Fahrradhelmen, Mode und Möbeln.
Nachhaltige Materialforschung
Auf diesen Erkenntnissen fußt nun auch das kürzlich angelaufene Projekt Muse. Dieses interdisziplinäre Vorhaben ist eine Kooperation zwischen der Universität Innsbruck, dem Mycelium Research Center Austria (MRCA), dem Campus Tirol Motorsport (CTM) und der Transferstelle der UIBK. Die Architektin und Designforscherin Barbara Imhof leitet das Projekt gemeinsam mit der Biodesignerin Natalia Piórecka sowie der Mikrobiologin Judith Ascher-Jenull. „Für uns ist es entscheidend, verschiedene Disziplinen in das Projekt einzubinden. So arbeiten MotorsportingenieurInnen, BiologInnen und ExpertInnen aus der Architektur zusammen“, beschreibt Imhof.
Das Forschungsprojekt wurde vom Land Tirol mit 200.000 Euro gefördert und läuft bis 2026. Das Hauptziel dabei ist die Entwicklung eines Sitzes aus Myzelium für extreme Bedingungen wie den Motorsport, was bisher einzigartig ist.
Das richtige Rezept
„Die natürliche Konsistenz des Myzels ist äußerst weich, deshalb müssen wir noch herausfinden, wie wir es optimal festigen können“, meint Imhof. Dies könne zum Beispiel durch die Einarbeitung von Karton oder Baumwolltextilien geschehen – zum Beispiel, um qualitativ hochwertige Abfallstoffe upzucyclen. „Wir sind noch auf der Suche nach dem idealen Rezept. Wie beim Kochen beeinflussen alle Zutaten das Endergebnis“, veranschaulicht die Wissenschaftlerin. Im ersten Schritt geht es also darum, die richtigen Mengenverhältnisse zu finden, damit das entstehende Material den Anforderungen eines Extremsport-Sitzes gerecht wird. Die Rezeptur erstellen die BiologInnen in enger Zusammenarbeit mit dem MRCA, indem sie das geeignetste Myzel sowie dessen genaue Ernährung und Wachstumsbedingungen bestimmen. Ist das Rezept gefunden, kann das Pilzmyzel in einem dunklen, kühlen Raum mit konstanter Feuchtigkeitszufuhr kultiviert werden.
Neue Formen
Die Rezeptur beeinflusst nicht nur die Konsistenz, sondern auch die Design-Möglichkeiten. Bisher wurden aus dem Material bereits Sessel hergestellt, die aufgrund des von Natur aus dünnen und widerstandsfähigen Myzelmaterials eher klobig sind und „kurze Beine“ haben. „Deshalb interessieren wir uns vor allem für die Zusammensetzung des Materials, um das Design variieren zu können und mehr Freiheiten zu gewinnen. Wie der Sessel am Ende ausschauen wird, werden wir in den nächsten zwei Jahren herausfinden“, erklärt die Design-Expertin. Natürlich ist gerade bei Möbeln auch die Farbe entscheidend. Da das Pilzgeflecht von Natur aus weiß ist, wollen die ForscherInnen hier ansetzen, um ein breites Farbspektrum zu ermöglichen.
„Mit dem Projekt ist es unser Ziel für die nächsten zwei Jahre, einen Prototyp eines Myzel-Sessels zu entwickeln, der das Potenzial zur Marktreife hat“, erläutert Imhof. Später könnte er auch in größeren Stückzahlen produziert und kommerzialisiert werden. Wenn alles gut geht, sprechen die vielen Vorteile des Materials eindeutig dafür.
Gebäude wachsen lassen
Weltweit wird nach Wegen gesucht, klimaneutral zu bauen und CO2-neutrale Materialien als Ersatz für herkömmliche, energieintensive Baustoffe zu nutzen. Kann der Pilzstoff uns diesem Ziel näherbringen? Für Imhof durchaus möglich: „Bisher wird das Pilzmyzel bereits für Innenverkleidungen eingesetzt, wo es eine hervorragende Schalldämmung bietet. Es könnte auch für dünne Wände verwendet werden“, beschreibt die Wissenschaftlerin. Ein Haus aus Pilzen ist derzeit noch nicht realisierbar, da das Material nicht – oder noch nicht – wasserdicht ist. „Man könnte untersuchen, ob diese Eigenschaft etwa durch das Hinzufügen von natürlichen Lacken oder dergleichen erreicht werden kann.“
Die Idee eines Hauses komplett aus Pilzen mag derzeit noch wie eine märchenhafte Utopie erscheinen, könnte jedoch eines Tages Realität werden – nicht zuletzt, weil in Pilzen noch viel unentdecktes Potenzial stecken dürfte: Aktuell sind rund 150.000 Pilzarten wissenschaftlich bekannt. Schätzungen zufolge sind das nur vier Prozent der drei bis fünf Millionen Arten, die weltweit existieren. Deswegen sind noch viel Geduld und intensiver Forschergeist gefragt – und genau dieser Enthusiasmus ist bereits jetzt deutlich spürbar. „Wir stehen erst am Anfang einer langen Reise, aber wer weiß, was noch alles möglich sein wird“, erklärt Imhof.