Tirol steht wie viele andere Regionen im deutschsprachigen Raum vor einer großen Herausforderung: dem Fachkräftemangel. Dieser betrifft längst nicht mehr nur Kleinbetriebe, sondern ist auch bei namhaften Unternehmen spürbar. Wir haben bei der Egger Gruppe aus St. Johann, der Plansee Gruppe aus Reutte und Hella aus Abfaltersbach nachgefragt, wie sie damit umgehen.
Ein oft übersehener Aspekt in der Debatte um Fachkräfte in Tirol sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. So lagen laut Statistik Austria die durchschnittlichen Bruttolöhne in Tirol 2023 bei 35.300 Euro - rund sieben Prozent unter dem österreichweiten Schnitt. Gleichzeitig zählt das Bundesland zu den Regionen mit den höchsten Lebenshaltungskosten – insbesondere im Bereich Wohnen: Die Mietpreise in Tirol liegen rund 14 Prozent über dem Österreichschnitt, in Innsbruck sogar noch deutlich höher. Auch Lebensmittel und Freizeitkosten bewegen sich über dem Bundesschnitt.
Der Sitz der Plansee Gruppe in Reutte mit den Unternehmensbereichen Ceratizit und Plansee Hochleistungswerkstoffe.
Diese Kombination aus unterdurchschnittlichem Einkommen und überdurchschnittlichen Preisen erschwert es vielen Unternehmen, Fachkräfte zu gewinnen oder im Land zu halten – vor allem im Wettbewerb mit städtischen Regionen wie Wien, Graz oder Linz.
Für Yasemin Bozbey, Managerin für Corporate Learning & Development bei der Egger Gruppe in St. Johann, war der Umzug von Großbritannien nach Tirol dennoch eine bewusste Entscheidung. „Tirol punktet mit Lebensqualität, Natur und einer intakten Work-Life-Balance – das wird für viele immer wichtiger“, so Bozbey.
„Weiterbildung heißt für uns: Menschen befähigen – nicht nur für die Gegenwart, sondern für morgen.“ - Yasemin Bozbey
Um diese weichen Standortfaktoren in den Vordergrund zu rücken, investieren Unternehmen wie Egger gezielt in ihre Arbeitgebermarke. Neben transparenter Kommunikation über Arbeitsbedingungen spielen Entwicklungsperspektiven eine zentrale Rolle. Egger ermöglicht standortübergreifende Karriereschritte und bietet umfassende Weiterbildungsangebote.
Regionale Verankerung, internationale Vielfalt
Auch bei Hella, einem führenden Anbieter von Sonnenschutzsystemen mit Hauptsitz in Abfaltersbach in Osttirol, ist der Fachkräftemangel spürbar – insbesondere bei gewerblichen Arbeitsplätzen. Der geschäftsführende Gesellschafter Andreas Kraler beschreibt die Lage nüchtern: „Vor einigen Jahren war es noch einfacher, gute Mitarbeiter zu finden – heute hat die Bereitschaft, längere Wege in Kauf zu nehmen, deutlich abgenommen.“ Als Reaktion darauf setzt das Unternehmen auf regionale Maßnahmen wie Werksbusse aus den umliegenden Tälern, Wohnangebote für zugezogene Mitarbeitende und flexible Arbeitszeitmodelle.
„Eine starke Arbeitgebermarke ist für uns ein zentraler Erfolgsfaktor – nicht nur im Recruiting, sondern auch für die langfristige Bindung unserer Mitarbeiter.“ - Andreas Kraler
Obwohl Osttirol auf den ersten Blick geografisch abgelegen erscheint, hebt Kraler die strategische Lage hervor: „Wenn man es europäisch sieht, sind wir im Zentrum – mit ähnlichen Entfernungen nach Rom, Hamburg, Paris oder Wien.“ Im Werk in Abfaltersbach arbeiten aktuell Menschen aus rund 30 Nationen – ein Zeichen gelebter Integration und Internationalität.
Neben einem gelebten „Miteinander“ investiert Hella auch in den Aufbau einer starken Arbeitgebermarke. Dazu gehören ein Bonussystem für MitarbeiterInnenempfehlungen, betriebliche Kantinenzuschüsse, Fahrtkostenzuschüsse und regelmäßige Veranstaltungen. Das Ziel: langfristige Bindung, Weiterentwicklungsmöglichkeiten und ein Arbeitsumfeld, das individuellen Lebensmodellen gerecht wird – sei es durch flexible Arbeitszeiten oder Unterstützung bei der Kinderbetreuung.
Der Unternehmenssitz der Egger Gruppe in St. Johann.
Tirols Bildungssystem als Fundament
Trotz der genannten strukturellen Nachteile hat Tirol einen entscheidenden Vorteil: ein solides und praxisnahes Bildungssystem, das jährlich tausende Fachkräfte hervorbringt. Vor allem das duale Ausbildungssystem – also die Kombination aus Lehre im Betrieb und Unterricht in der Berufsschule – ist ein bewährtes Modell. Per Jahresende 2024 zählte Tirol laut WKO 10.125 Lehrlinge – das sind fast zehn aller österreichischen Lehrlinge, obwohl das Bundesland nur etwa achteinhalb Prozent der Bevölkerung stellt.
Das Ausbildungszentrum in Reutte: Dort, wo die Fachkräfte von morgen bereits heute in Hightech-Prozesse eintauchen.
Ein besonderes Element im Bildungssystem ist das Polytechnische Schuljahr (PTS), das in Tirol traditionell stark verankert ist. Es dient als Überbrückung zwischen der Pflichtschule und der Lehre und hilft Jugendlichen bei der Berufsorientierung. Im Schuljahr 2022/23 besuchten rund 2.000 SchülerInnen ein PTS in Tirol – ein wichtiger Beitrag zur Berufsreife und langfristigen Fachkräftesicherung.
Ausbildung als Unternehmensstrategie
Hella investiert gezielt in Ausbildung: mit Ferialstellen, Schnuppertagen, einem firmeneigenen Schulungszentrum in Deutschland sowie Kooperationen mit der HTL Lienz und dem MCI Innsbruck. Letzteres etwa im Rahmen eines dualen Studiengangs für Smart Building Technologies – eine Kombination aus Theorie, Praxis und beruflicher Sicherheit.
Andreas Kraler im Gespräch mit einem Mitarbeiter bei Hella - gutes Arbeitsklima und eine funktionierende Kommunikation wird bei den Osttirolern ernst genommen.
Auch Egger setzt auf vielfältige Lernwege – von dualen Studienangeboten bis hin zu internationalen Entwicklungspfaden. „Es geht nicht nur um einen Job, sondern um ein Umfeld, in dem Menschen sich entfalten können“, sagt Bozbey.
Vom Lehrling zur Führungskraft
Die Plansee Gruppe aus Reutte begegnet dem Fachkräftemangel mit einem langjährig aufgebauten Ausbildungssystem. „Wir spüren den Mangel, sind aber nicht so stark betroffen wie andere Unternehmen“, so ein Sprecher. Der Grund: Eine klare Aus- und Weiterbildungslinie, die bereits in den 1930er-Jahren begann.
Der Unternehmenssitz der Plansee Gruppe in Reutte: Erst aus der Luft erkennt man die Größe des gesamten Areals.
Heute werden in einem hochmodernen Ausbildungszentrum mit eigener Berufsschule jährlich rund 120 Lehrlinge ausgebildet – betreut von neun hauptamtlichen AusbilderInnen. Nur 15 Privatberufsschulen gibt es in ganz Österreich – Plansee betreibt eine davon. Das Unternehmen verfolgt konsequent das Ziel, 80 Prozent der Führungspositionen aus dem eigenen Talentepool zu besetzen – mit nachhaltigem Erfolg.
Weiterbildung, Internationalität und Zukunftstechnologien
Neben der klassischen Lehre rückt bei allen drei Unternehmen die kontinuierliche Weiterbildung in den Mittelpunkt. Bei Plansee umfasst das Themen wie KI, 3D-Druck und Robotik. Im firmeneigenen Training Center in den USA werden diese Kompetenzen systematisch aufgebaut.
Von der Spanplatte bis zur Designoberfläche – moderne Fertigung trifft bei Egger auf jahrzehntelanges Know-how.
Egger fördert gezielt berufsbegleitende Qualifizierungen und internationale Mobilität. Auch Hella bietet seinen Mitarbeitenden umfassende Entwicklungsmöglichkeiten – von Produktschulungen bis hin zu individuellen Führungstrainings. Wer Eigeninitiative zeigt, wird gezielt unterstützt.
Internationale Erfahrungen werden früh ermöglicht: Bei Plansee etwa durch Praktika in den USA, bei Hella durch standortübergreifende Austauschformate wie die Young Professional Days.
Der zentrale Unternehmenssitz von Hella liegt in Abfaltersbach. Weitere Standorte bzw. Schauräume gibt es unter anderem in Salzburg, Dornbirn, Graz, Wien und Hall in Tirol.
Fachkräftemangel ist eine Herausforderung – aber kein Schicksal
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Tirols sind für viele Unternehmen eine strukturelle Hürde. Doch Beispiele wie Egger, Plansee und Hella zeigen: Mit regionaler Verankerung, internationaler Offenheit, konsequenter Ausbildung und einer echten Perspektive für Mitarbeitende lässt sich der Fachkräftemangel nicht nur abfedern, sondern aktiv gestalten.
Und nicht zuletzt zeigt sich: Bildung wirkt. Tirol bildet Fachkräfte nicht nur für den eigenen Bedarf aus, sondern etabliert sich zunehmend als Standort mit nachhaltigen Ausbildungsmodellen – trotz geografischer Lage und struktureller Nachteile.