Foodsharing boomt. In Innsbruck gibt es bereits an die 500 registrierte Lebensmittelretter. Viele Studenten, aber auch Familien, Nachbarn und Migranten freuen sich über die abgelaufenen Lebensmittel, die viel zu schade zum Wegschmeißen sind.
Der Mann im Kittel verschwindet mit dem Einkaufswagen hinter schwarzen Gummilamellen. Daneben steht noch ein Wagen, randvoll mit Broten, Schnittkäse, Salami, Joghurts und Butter, Süßem, davor eine Kiste mit schrumpeligen Äpfeln, vorgeschnittene Salate und Kräuter, die in ihrer Plastikhülle dünsten. Zwei junge Frauen mit großen Rucksäcken packen die Kiste und folgen dem Mann, der sich gerade die zweite Fuhre schnappt. „Beim Lebensmittelretten kommt man oft ganz schön ins Schwitzen“, lacht Franzi Markus.
Foodsharing-Netzwerks Innsbruck
Sie ist seit 2014 aktive Foodsaverin und eine von sechs Botschafter*innen des Foodsharing-Netzwerks Innsbruck. Sie hat kein Auto und die abgelaufenen Lebensmittel und überreifen Früchte, die sie und andere Ehrenamtliche mehrmals die Woche bei fast 40 Supermärkten abholen, verteilt sie mit dem Fahrrad weiter. Manchmal warten auf sie mehrere Kisten Ware, die gemäß den Regeln des Einzelhandels nicht mehr in den Verkauf dürfen und ohne Foodsharing in der Mülltonne landen. Dann springt das spontane Hilfsnetz der gut vernetzten Innsbrucker Community an. „Wir brauchen einen Helfer, hat jemand JETZT Zeit?“, tippt Patrizia Dorn, ihre Kollegin beim Lebensmittelretten, in ihr Smartphone. Sie hat Glück – meistens liest die Nachricht sofort jemand und tritt irgendwo in der Stadt in die Pedale.
Die beiden Frauen sortieren die Lebensmittel und schmeißen nur das in die Tonne, was schimmlig oder faul ist. Sie nehmen grundsätzlich alles mit, auchWaren mit beschädigter oder offener Verpackung und Produkte mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD). Davon unterscheidet sich der Hinweis „zu verbrauchen bis“ für Lebensmittel z. B. mit rohen Eiern, Fleisch und Fisch. Ist ein Verbrauchsdatum überschritten, wird nichts weitergegeben. Es gilt der Grundsatz: „Teile nur Lebensmittel, die du selbst verzehren würdest.“
Zu gut für die Tonne
Ein Drittel der weltweiten Lebensmittelproduktion landet im Müll. In Österreich schmeißt der Handel jährlich um die 80.000 Tonnen weg. Nur einen kleinen Teil davon bekommen soziale Einrichtungen und Vereine. Von der Politik in Aussicht gestellt wurde ein Wegwerfverbot für größere Supermärkte. Sämtliches Übriggebliebene soll dann an Bedürftige gehen.
Das Trockensortiment, aber auch Wurst, Käse und andere Milchprodukte, wie Joghurt, schmecken Tage und manchmal Wochen nach dem Ablaufdatum noch gut. „Hier kommen unsere Sinne ins Spiel“, erklärt Franzi. „Geschmack, Aussehen und Geruch eines Lebensmittels verraten uns so einiges über die Haltbarkeit von Speisen.“ Irrtümlich betrachten viele Konsumenten das MHD als letzte Möglichkeit zum Verzehr. Das MHD heißt aber keineswegs „Tödlich ab“. Es handelt sich um eine Sicherheitsmaßnahme der Lebensmittelindustrie. Bei Käse etwa, der seinen Geschmack im Laufe seines Reifeprozesses verändert, steht das MHD für das Ende der Phase, zu dem kein gleichbleibender Geschmack mehr gewährt ist. Viele Käsekenner und Genießer wissen aber gerade gereiften Käse zu schätzen und freuen sich über das vollmundige Aroma nach dem MHD wie über einen Schatz.
Die Rucksäcke der Foodsaverinnen sind jetzt prall gefüllt. Gemeinsam tragen sie die übrigen Tüten zu Franzis Fahrradanhänger. Mit den Rettungsaktionen – in Innsbruck gab es bereits rund 5.000 Einsätze! – soll der CO2-Fußabdruck wenn möglich nicht steigen.
Foodsharing boomt
Foodsharing gibt es in Innsbruck seit 2014. Die Zahl an Foodsaver*innen in der Stadt ist in den letzten Jahren exponenziell gestiegen und damit auch die Anzahl kooperierender Betriebe. Neu ist auch die Ausweitung auf das Innsbrucker Umland. In Völs, Aldrans, Lans, Rum und Thaur nehmen aktuell bereits MPreis-Märkte teil.
Botschafterin Gillian Köhler ist seit 2018 dabei und erklärt, warum sie sich engagiert: „Durch meine Erlebnisse beim Containern weiß ich genau, wie viele genießbare Lebensmittel in die Tonne wandern. Ich bin der Meinung, dass wir diese Lebensmittel besser fair-teilen könnten. Mein Engagement war zuerst ökologischer Natur, inzwischen stützt es sich auch auf soziale und politische Überzeugungen. Jede*r sollte Zugang zu Lebensmitteln haben und wertvolle Lebensmittel und die Arbeit der Produzenten mehr Wertschätzung erfahren. Dieser Wahn muss ein Ende haben.“
Containern oder Foodsharing?
Containern oder Dumpstern bezeichnet das Lebensmittelretten von bereits in Mülltonnen entsorgter Ware. Diese Aktionen sind konsum- und globalisierungskritisch und prangern die Wegwerfgesellschaft ebenso an, wie sie Ausdruck von Konsumboykott sind. In Deutschland wird Mülltauchen strafrechtlich als Diebstahl verfolgt. In Österreich bewegt man sich meist in einer Grauzone des Hausfriedensbruchs, frei nach dem Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“.
Seit 2012 rettet die Foodsharing-Bewegung als legale Alternative täglich tonnenweise gute Lebensmittel vor dem Müll in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Valentin Thurn gründete den gemeinnützigen Verein 2012 im Zuge der Dreharbeiten seines Films „Taste the Waste“. 2014 kam es zur Fusion mit lebensmittelretten.de. Idee und Konzept des Lebensmittelrettens bei Betrieben stammen von Raphael Fellmer, der in Berlin im Frühling 2012 die erste Kooperation startete und somit das Fundament für die heutige Bewegung schuf. Bis auf die Minijobstelle für die Geschäftsführung bekommt niemand Geld.
Ehrenamtlich Essen verteilen
Vom Programmierer bis zur PR setzen sich alle ehrenamtlich ein. Akive verteilen das Essen im Bekanntenkreis, der Nachbarschaft, in Obdachlosen- und Flüchtlingsheimen, an gemeinnützige Vereine und soziale Projekte, Schulen, Kindergärten und via Essenskörbe zum Abholen über die Internetplattform. Diese dient als Netzwerk, in dem sich Hunderte Foodsharing-Botschafter*innen – zuständig für Städte und Regionen – und über 93.000 Foodsaver organisieren. Zum Vergleich: Vor einem Jahr waren es 72.000 registrierte Helfer. Die Protestbewegung gegen unsere Konsum- und Überflussgesellschaft wächst mit Riesenschritten. Über 46.000 Tonnen Lebensmittel wurden bereits in Bäckereien, Supermärkten, Kantinen, Restaurants und Großhändlern gerettet. Die sogenannten Fair-Teiler sind öffentlich zugängliche Regale und Kühlschränke, aus denen jeder Bürger – ob bei Foodsharing registriert oder nicht – Produkte entnehmen darf. Jedes Lokal, das Platz hat für einen Kühlschrank, ist willkommen. In Innsbruck gibt es momentan einen Fair-Teiler im Moustache in der Badgasse und einen in der Bäckerei Kulturbackstube in der Dreiheiligenstraße.
Leider mussten coronabedingt weitere Verteilstationen schließen.
Ein neuer 24-Stunden-Outdoor-Fair-Teiler auf dem Gelände der Universität ist in Arbeit. denn’s Biomarkt war einer der ersten Partnerbetriebe in Innsbruck. Franzi bringt ihre Abholungen meistens ins Moustache. Seit der Fair-Teiler aus der Markthalle verschwunden ist, hat sich nun auch dieser Abgabeplatz per Mund-zu-Mund-Propaganda herumgesprochen. Ein paar der Alten, die früher an der Markthalle um ein paar Lebensmittel angestanden haben, warten nun vor der Innsbrucker Szene-Gastro. Während Franzi und Patrizia ihre Rucksäcke leeren, Brote in Plastikboxen stapeln und den Kühlschrank mit runzligem Gemüse und Früchten füllen, kommt eine kleine Frau näher. Sie hole hier oft Lebensmittel ab, sagt sie. „Bei einem anderen Supermarkt im Zentrum“, erzählt Patrizia, „warten samstags zur Abholzeit jetzt immer ein paar Obdachlose. Alle freuen sich, wenn wir mit unseren Rucksäcken um die Ecke biegen.“
Mitmachen?
Wer sich selbst gerne engagieren möchte, registriert sich auf foodsharing.at und findet dort weitere Infos.