Aufzuhalten ist die Automatisierung nicht – und das sollte sie auch nicht, ist Benjamin Massow überzeugt. Warum Unternehmen gut daran tun zu automatisieren und warum sich die Fachkräfte von morgen bereits jetzt in den eigenen Rängen finden, erklärt der Leiter des Zentrums für Produktion, Robotik und Automatisierung.
Automatisierung ist das große Thema. Wie ist der Stand in Tirol aktuell?
Benjamin Massow: Das ist schwer zu vereinheitlichen. Tirol ist sehr KMU-geprägt. In dem Bereich sind viele UnternehmerInnen so ins Tagesgeschäft eingebunden, dass sie gar keine Zeit haben, sich mit neuen Technologien und den ständig wachsenden Möglichkeiten zu beschäftigen. Zugleich gibt es auch große Industriebetriebe, die ganz vorne mit dabei sind. Diese haben ganze Abteilungen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Aber in der Breite gibt es definitiv noch Raum nach oben.
Also betrifft Automatisierung nicht nur „die Großen“?
Ganz und gar nicht. Gerade für kleinere Betriebe wird das zunehmend zum Thema. Besonders diese stehen ja in der Regel mit Einzelfertigungen, Kleinserien und spezialisierten Produkten am Markt. Und diese verkaufen sich im Regelfall nicht über den Preis, sondern über ihre herausragenden Eigenschaften. Die Kunst wird es sein, die Dinge, die nicht das Alleinstellungsmerkmal eines Produkts sind, relativ günstig, weil automatisiert, abzuwickeln und für die individualisierten und innovativen Aspekte MitarbeiterInnen einzusetzen. Damit gelingt es, sich weiter von im Ausland beheimateten Massenproduzenten abzuheben, ohne eine exorbitante Preisdifferenz zu erzeugen.
Es geht also nicht nur um Industrieroboter in der Fertigung?
Automatisierung ist ganz klar nicht gleich Roboter. Als Robotikexperte freue ich mich natürlich immer, wenn die Leute an Roboter denken. Aber diese sind nur eines von vielen Werkzeugen, die man einsetzen kann. Das ist unternehmensindividuell und beginnt bei der ganzheitlichen Betrachtung der Unternehmensprozesse. Automatisierung ist also auch die Digitalisierung und Optimierung von Abläufen – und das beginnt schon weit vor der Produktion.
Dennoch sprechen Unternehmen hierzulande nicht gerne über das Thema. Muss man sich für Fortschritt schämen?
Das Thema ist – leider – gerade in Mitteleuropa negativ behaftet. Und das wird uns als Wirtschaftsstandort aktuell zum Verhängnis. In der Vorstellung vieler wird Automatisierung mit der Freisetzung von MitarbeiterInnen in Verbindung gebracht. Was natürlich zu Recht sehr negativ besetzt ist. Oberflächlich betrachtet kann ich das also nachvollziehen. Objektiv gesprochen ist die Antwort aber ein klares Nein. Im Gegenteil: Eigentlich sind Unternehmen sowohl ihren MitarbeiterInnen als auch der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, kontinuierlich zu optimieren und zu automatisieren. Natürlich nicht auf Teufel komm raus, sondern mit Herz und Verstand.
Welcher Verpflichtung kommen Unternehmen damit nach?
Um ihre Wettbewerbsfähigkeit – und somit regionale Arbeitsplätze – langfristig zu sichern, haben mitteleuropäische Unternehmen keine andere Wahl, als Prozesse schlanker und effizienter zu gestalten. Ansonsten werden sie gegen AnbieterInnen aus dem osteuropäischen und asiatischen Raum keine Chance haben. Wenn sie das nicht tun, gehen nicht nur sie wirtschaftlich zugrunde, sondern mit ihnen der gesamte Wirtschaftsraum.
Also gehen entweder manche oder alle Arbeitsplätze verloren?
Es müssen, oder eigentlich sollten, streng genommen nahezu keine Arbeitsplätze gestrichen werden. Der Weg ist es, einfache, repetitive Vorgänge zu automatisieren. Das spart Kosten und erhöht die Produktivität. Zugleich erlaubt es MitarbeiterInnen, sich in hochwertigere Aufgaben einzubringen – damit steigt also die Qualität der Arbeitsplätze. Wer groß Stellen abbaut, macht nicht nur gesellschaftlich etwas falsch, sondern schafft sich selbst neue Probleme.
Aber kann die Rechnung, bei gleicher Belegschaft Vorgänge zu automatisieren, aufgehen?
Automatisierung ist keine einfache „Maschine rein – Mensch raus“-Rechnung, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der nicht von heute auf morgen passiert – zumindest nicht, wenn Unternehmen den Fortschritt nicht so lange hinauszögern, bis eine Ho-Ruck-Aktion nötig ist. Wir erleben in Europa gerade einen kontinuierlichen Wandel der Anforderungen an MitarbeiterInnen. Der aktuelle Fachkräftemangel ist dabei erst der Anfang. Einfach gesagt könnte ein Unternehmen jetzt x Prozesse automatisieren und y MitarbeiterInnen entlassen – spätestens in zwei bis fünf Jahren würde man aber nun endgültig keine neuen MitarbeiterInnen mehr finden, die Kompetenzen mitbringen, die zu diesem Zeitpunkt nun wirklich jeder braucht.
Aber was ist die Alternative?
Die magischen Wörter heißen „kontinuierliches, mitarbeiterzentriertes Wissens- und Kompetenzmanagement“. Das klingt kompliziert, bedeutet aber „nur“ das kontinuierliche Erheben, welche Kompetenzen im Betrieb aktuell gefordert sind, welche mittel- und langfristig benötigt werden und welche die MitarbeiterInnen aktuell mitbringen. Über adäquate Methoden wird so ersichtlich, wo es fehlt oder bald fehlen wird. Und wer dann noch erhebt, welche Mitarbeiter-Innen sich in welche Richtung weiterentwickeln wollen, und dies fördert, wird zukünftig – wenn alle verzweifelt nach Fachkräften suchen – bereits gut ausgebildete Profis im Haus haben, die das eigene Unternehmen mit all seinen Individualitäten bestens kennen.
Das klingt ein wenig nach: „Man muss ja nur …“
Dass es einfach ist, hat niemand gesagt. Das ist ein kontinuierlicher Prozess und keine einmalige Erhebung. So etwas muss flexibel und dynamisch gestaltet werden und in die Unternehmenskultur einfließen. Außerdem kann das nicht „von oben“ kommen. Das ist keine Chefsache, sondern braucht zum einen externe ExpertInnen, die sich der Trends und Entwicklungen bewusst sind, und muss zum anderen in direkter Zusammenarbeit mit MitarbeiterInnen und Abteilungen passieren. Denn nur dort kann entschieden werden, wer sich für welche Bereiche interessiert und den Enthusiasmus mitbringt, um sich dahingehend kontinuierlich weiterzuentwickeln. So kommt die Angst, ersetzt zu werden, gar nicht erst auf, weil ersichtlich wird, dass das Unternehmen mit seinen BestandsmitarbeiterInnen gemeinsam in eine sichere Zukunft gehen möchte.
Also braucht es auch den Blick von außen?
Unbedingt. Betriebsblindheit ist nicht nur sprichwörtlich, sondern ein echtes Problem. Vor allem, wenn es um Prognosen geht. Die Zusammenarbeit mit externen Kooperationspartner-Innen, die einen unvoreingenommenen Blick auf aufkommende Technologien, etwaige Trends und Entwicklungen haben, ist deswegen unerlässlich. Insbesondere Hochschulinstitutionen, und da zählen wir mit dem Zentrum für Produktion, Robotik und Automatisierung auch dazu, haben zudem den Vorteil, dass ihnen moderne Automatisierungstechnologien und Wissen über deren Nutzung und Risiken zur Verfügung stehen. Gerade für KMUs, die große Investitionen nur schwer stemmen können, ist das ein enormer Vorteil. Sie müssen nicht raten, auf welches Pferd sie am besten setzen, sondern haben jemanden mit Erfahrung zur Seite und können so gemeinsam adäquate Technologien identifizieren und ausprobieren.
Also geht es generell nicht um „Mensch gegen“, sondern „Mensch mit Maschine“?
Genau. Das ist das Kernproblem in der Wahrnehmung. Unternehmen können und wollen es sich längerfristig gar nicht leisten, ihre Belegschaft einfach zu ersetzen. Und viele Bereiche der Automatisierung zielen darauf auch gar nicht ab. Assistenzsysteme sind da ein gutes Beispiel. Das sind beispielsweise Augmented-Reality-Brillen, die das Blickfeld der Träger um Überblendungen ergänzen. Solche Technologien helfen nicht nur dabei, Vorgänge schneller und effizienter abzuwickeln. Sie unterstützen auch dabei, zum Beispiel die Bedienung von neuen Geräten oder die Fertigung neuer Produkte zu lernen, ohne stundenlang Schulungsunterlagen wälzen zu müssen. Schlussendlich hilft das auch älteren MitarbeiterInnen, die ja in der Öffentlichkeitswahrnehmung eher als die VerliererInnen der Automatisierung gesehen werden. Dank technologischer Unterstützung und kontinuierlicher Weiterbildung werden sich auch hier viel mehr Chancen als Risiken ergeben.
Zur Person:
Benjamin Massow ist ausgebildeter Industriemechatroniker und Mechatronikingenieur. Er war am Innsbrucker MCI maßgeblich am Aufbau des Zentrums für Produktion, Robotik und Automatisierung beteiligt, das er mittlerweile leitet.
Zur Forschungseinrichtung:
Das von Massow geleitete Zentrum für Produktion, Robotik und Automatisierung wurde vom MCI gemeinsam mit der Industriellenvereinigung eingerichtet, um heimischen Unternehmen als Anlaufstelle bei Fragen rund um das Thema Produktion und Automatisierung zur Seite zu stehen. Neben entsprechendem Know-how stellt das Zentrum auch aktuellste Technologien zur Verfügung, mit denen unternehmensindividuelle Lösungen definiert und evaluiert werden können.