Kreativität ist kein Luxus, sondern essenziell für die Wirtschaft und die Gesellschaft, sind sich Arno Ritter von aut. architektur und tirol und Gina Vedova vom Cluster kreativland.tirol einig. Welchen Potenzialen und Hürden sich Kreativität in Tirol gerade gegenübersieht, erzählen sie im Interview.
Hat Kreativität Wert in Tirol?
Arno Ritter: Ich würde sagen, sie hat nicht unbedingt die Wertschätzung, die sie verdienen würde. Sie wird leider von politischer, gesellschaftlicher und auch von der ökonomischen Seite leider nicht wirklich wertgeschätzt, indem sie vor allem entsprechend bezahlt wird.
Gina Vedova: Gerade von unternehmerischer Seite kann ich da nur zustimmen. Kreativität wird zwar immer gern gesehen und gewollt, aber wenn es darum geht, Budgets freizumachen oder auch nur Freiräume oder zeitliche Ressourcen zu schaffen, dann ist die Wertschätzung gleich wieder am Ende. Dann hat das Tagesgeschäft immer Vorrang vor dem Freiraum.
Was braucht die Tiroler Kreativwirtschaft?
Vedova: Sichtbarkeit. Ganz viel Kommunikationssichtbarkeit, damit endlich in die Köpfe geht, dass Kreativität eben auch Wertschöpfung ist. Also gerade aus meiner Perspektive des Clusters kreativland.tirol der Standortagentur Tirol fehlt dieses Bewusstsein, dass das zur Wirtschaft gehört.
Ritter: Die Kreativität in Tirol ist – und das sage ich als Nichttiroler, auch wenn ich schon fast 30 Jahre hier bin – sehr hoch. Das hat wahrscheinlich historisch mit den schwierigen Lebensbedingungen in dieser Landschaft zu tun. Man musste einfach kreativ sein, um zu überleben. Die Dichte an Tirolern und Tirolerinnen, die Kunst, Musik, Literatur und auch Architektur international bereichern, ist hoch – auch wenn sie teilweise nicht mehr in Tirol leben. Das heißt: Die Kreativität scheint ein „Gencode“ Tirols zu sein. Was es braucht, ist mehr Freiraum, Wertschätzung und Bewusstsein, dass sie für die Gestaltung der Zukunft essenziell ist.
Vedova: Es gibt auch wahnsinnig viele junge Initiativen hier und viele junge Leute, die motiviert sind. Aber sie werden oft alleingelassen. Solange sie alles in Eigenleistung stemmen, werden sie gern gesehen. Aber sobald es um Unterstützung geht, ist es wieder Brachland.
Wo liegen denn Potenziale brach?
Ritter: Fangen wir bei aller Anfang an: Kindern und Jugendlichen wird tendenziell ihr kreatives Potenzial in der Schule ausgetrieben oder die kreativen Stunden oft reduziert. Denn kreativ zu sein bedeutet, dass man auf eine Frage viele Antworten hat. Aus diesem Grund haben wir gemeinsam mit Monika Abendstein 2015 das bilding gegründet, einen Freiraum für Kreativität ohne Leistungsdruck, ohne Schulnoten und ohne ökonomischen Zwang. Im bilding können Kinder und Jugendliche ihre Kreativität ausleben und damit ihre Persönlichkeiten „er/finden“. Denn unsere Geschichte hat sich nur aufgrund von kreativen Menschen entwickelt. Newton, Einstein etc. waren nur möglich, weil sie kreativ waren und Erkenntnisse zusammengedacht haben, die vor ihnen niemand kombiniert hatte.
Vedova: Das setzt sich in Tirol auch fort. In der Lehrlingsausbildung gibt es hier nahezu keine kreativen Freiräume. In Innsbruck wird nur die Architektur als höhere Aus- und Weiterbildung im Kreativbereich angeboten. Junge Menschen, die sich kreativ weiterbilden wollen, müssen Tirol verlassen. Und dann müssen wir darauf hoffen, dass sie irgendwann Heimweh bekommen und mit all den Dingen, die sie anderswo gelernt haben, zu uns zurückkommen. Da verlieren wir wahnsinnig viel Potenzial. Würden wir solche Orte hier schaffen, würden wir sie nicht nur halten, sondern auch ein Ökosystem entstehen lassen, das wachsen kann.
Wo sehen Sie den Angelpunkt zwischen Kreativität und Wirtschaftlichkeit?
Ritter: Ich würde zwischen Kreativität und Wirtschaft trennen. Ich finde den Begriff der Kreativwirtschaft problematisch, da Kreativität damit ökonomisiert wird. Zuerst braucht es mehr Freiraum für die Kreativität, mehr Möglichkeiten, sie ausleben zu können. Und das kann sich unter anderem auch in ökonomischen Entwicklungen ausdrücken. Aber es muss nicht gleich ein Start-up-Unternehmen daraus werden. Auch eine Bäuerin, die kreativ ist und alternative Produkte herstellt, ist wichtig für unseren Lebensraum. Kreativität ist für mich nicht unbedingt ein Bestandteil der Ökonomie oder der künstlerischen Tätigkeiten, sondern eigentlich eine menschliche Eigenschaft, die wir existenziell brauchen.
Vedova: Womit viele Leute vielleicht eher etwas anfangen können, ist der Begriff der Innovation. Die braucht Kreativität im Vorfeld. Daraus kann dann etwas entstehen, das auch wirtschaftlich rentabel ist. Aber um Potenziale für Innovation zu entdecken, braucht man Kreativität, Dinge anders zu denken und sich zu trauen, anders an sie heranzugehen. Nur so kann Innovation entstehen. Das ist die Connection für mich. Das ist aber keine Fähigkeit, die nur die Kreativwirtschaft hat. Dieses Potenzial steckt in jedem Menschen. Nur kann die Kreativwirtschaft, um auch eine Lanze für meine Branche zu brechen, dieses Arbeiten mit Idee und Freiraum eben sehr gut – und kann auch anderen Unternehmen in diesem Bereich etwas beibringen.
Was macht künstliche Intelligenz mit Kreativität?
Ritter: Hoffentlich nicht viel.
Vedova: Auch im Umgang mit künstlicher Intelligenz gibt es superkreative Ansätze. KI ist ein Werkzeug. Und ich glaube, dass Kreative besonders mutig sind, neue Anwendungsformen zu entwickeln und zu schauen, wie sie diese einsetzen können. Was ich nicht gefährdet sehe, ist die Kraft des menschlichen Spieltriebs im Umgang damit. Auch KI wird wie ein Werkzeug eingesetzt werden.
Ritter: KI kann nur verarbeiten, was programmiert wurde. Insofern baut sie auf Erkenntnisse der Vergangenheit auf, soweit ich das als Laie verstehe. Menschen haben aber die Fähigkeit, aus vergangenen Erkenntnissen und Erfahrungen etwas Neues zu kreieren. Es gibt zwar selbstlernende Programme, aber ich vertraue vielleicht naiv darauf, dass sie ein Werkzeug bleiben, das sicher Themen verändern, aber die menschliche Kreativität nicht ersetzen wird.
Also ist Technologie keine Bedrohung für die Branche?Vedova: Bedrohung würde ich nicht sagen. Sie wird auf jeden Fall Prozesse revolutionieren. Es werden ganz andere Arbeitsabläufe und Prozesse herauskommen – innerhalb kurzer Zeit. Aber Bedrohung an sich ist es keine. Es ist eine große Veränderung, die uns bevorsteht.
Ritter: Ich glaube, sie bedroht gewisse Arbeitsfelder, denn es wird zu einer Veränderung von Berufen führen. Das ist jetzt schon spürbar. Wie weit das gehen wird, traue ich mich nicht zu sagen.
In einer zahlen- und datengetriebenen Welt: Ist Kreativität quantifizierbar?
Ritter: Gott sei Dank nicht, aber das ist gleichzeitig auch das Problem. Denn konnte man die Formel Einsteins zur Relativitätstheorie damals quantifizieren? Heute wissen wir, was diese Erkenntnis ausgelöst hat. Auch die Werke vieler KünstlerInnen wurden zu ihrer Zeit als mehr oder weniger wertlos angesehen und kosten heute manchmal Millionen. Oft wird Kreativität unterschätzt, weil sich ihr „Wert“ erst über die Zeit manifestiert. Eine gute, kreative Lösung funktioniert langfristig, eine schlechte erzeugt Probleme.
Vedova: Ich würde sagen, dass das die falsche Frage ist. Richtig sollte man fragen, ob man es sich leisten kann, nicht kreativ zu sein. Oder was der Umkehrschluss ist. Kann man die Abwesenheit von Kreativität in eine Zahl fassen? Man kann den Faktor Kreativität nicht aus etwas „herausrechnen“. Aber vermutlich muss man sich überlegen, wie Dinge aussehen würden, wenn keine Kreativität da wäre.
Was werden die kommenden Trends oder Richtungen in der Kreativwirtschaft sein?
Ritter: Nur für die Architektur gesprochen, wird es in Zukunft vermehrt darum gehen, dass nicht mehr neu gebaut werden wird, sondern um die Transformation von Bestandsobjekten. Dazu kommt, dass wir mit den begrenzten Ressourcen nachhaltig umgehen müssen – vom Boden bis zum Material, d. h. dass die Themen Upcycling, Downcycling etc. wichtig werden. Das Bauen auf der grünen Wiese wird in Zukunft nur mehr in Ausnahmefällen möglich sein – und sollte eigentlich schon lange nicht mehr passieren.
Vedova: Das ist in meinem Fall vielleicht ein wenig schwieriger zu beantworten, weil ich ja ganz verschiedene Bereiche repräsentiere. Aber im Grunde genommen sind es überall die gleichen Megatrends, die sich auf alle Branchen auswirken: die fortschreitende Digitalisierung, KI, die globale Vernetzung, aber auch das Wirtschaftsmodell, in dem wir uns bewegen, das auf permanentem Wachstum beruht in einer Welt mit begrenzten Ressourcen. Das betrifft alle bauenden, produzierenden und gestaltenden Gewerbe.
Wordrap Arno Ritter
- Meine kreativste Idee war …
Dass ich mein Leben nicht geplant habe. - Chat-GPT habe ich das letzte Mal verwendet …
Noch nie. - Das hätte mir einfallen müssen:
Ich kannʼs gerade nicht auf den Punkt bringen, aber manchmal fehlt mir Schlagfertigkeit ... - Gute Ideen entstehen nur, wenn …
Wenn ich nicht dran denke, wenn ich gehe oder alleine in einer Bar sitze. - Tirol braucht mehr Mut bei …
Bei der Transformation des traditionellen Handelns hin zu einem kreativen Denken über die zukünftige Gestaltung unseres Lebensraumes.
Zur Person
Arno Ritter ist Kurator und Publizist und leitet seit 1995 den Ausstellungsraum aut. architektur und tirol. Er war 2012 Kommissär des Österreichischen Pavillons auf der Biennale in Venedig.
Wordrap Gina Vedova
- Meine kreativste Idee war …
Meinen KollegInnen zu erklären, was Kreativität ist. - Chat-GPT habe ich das letzte Mal verwendet …
Heute Morgen. - Das hätte mir einfallen müssen:
Das Rezept für Chocolate-Chip-Cookies. - Gute Ideen entstehen nur, wenn …
Wenn sie wirklich ausgangsoffen gedacht werden. - Tirol braucht mehr Mut bei …
Bei allem.
Zur Person
Gina Vedova stammt aus Bayern. Sie hat in Ingolstadt sowie in Innsbruck studiert. Seit 2020 leitet sie den Cluster kreativland.tirol der Standortagentur Tirol. Dort befasst sie sich mit der Förderung von Innovation und Tiroler Kreativunternehmen sowie deren Förderung.