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Enrique Gasa Valga

Der Bub muss zum Ballett

Umjubelt. Enrique hat am Tiroler Landestheater mehr als ein Jahrzehnt für ausverkaufte Vorstellungen gesorgt.
Enrique Gasa Valga

Der Bub muss zum Ballett

Umjubelt. Enrique hat am Tiroler Landestheater mehr als ein Jahrzehnt für ausverkaufte Vorstellungen gesorgt.

Was wäre Enrique heute von Beruf, wenn er nicht Balletttänzer geworden wäre? Er sagt: kriminell, und meint es ernst. Der scheidende Tanzchef des Tiroler Landestheater erzählt dem 6020 Stadtmagazin von seinem ungewöhnlichen Werdegang.

Enrique war ein sehr schwieriges Kind: „Katastrophe“, meint er selber, „so Richtung ADHS.“ Der 46-Jährige streicht sich eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Mutter, eine Krankenschwester, sucht Anfang der 1980er verzweifelt Rat bei einem befreundeten Psychiater. Er meint, Enrique brauche ein Hobby, das ihn richtig müde mache, aber nichts Aggressives, kein Fußball, kein Karate. Enriques Papa schlägt Klavier vor, Enriques Mama Ballett, und der Bub selbst ist entsetzt. „Das ist verrückt. Ballett ist nur was für Mädchen“, brüllt der kleine, hyperaktive Katalane hysterisch durchs Haus. Auch sein Vater, ein Ingenieur, findet die Idee höchst skurril. Aber keine Widerrede, der Bub muss zum Ballett. Die ersten Stunden verlaufen so lala. Dann fällt ihm auf, wie sehr er beim Ballett im Mittelpunkt steht, wie viel Aufmerksamkeit er bekommt, und irgendwann ist es dann doch tatsächlich so weit: Enrique bekommt sein erstes Lob.

DIE WENDE.

„Ich wurde davor noch nie für irgendetwas gelobt, da wurde in meinem Kopf ein Schalter umgelegt“, erklärt Enrique. Er geht also weiterhin zum Ballett. Wenn ihn andere Burschen aus seinem kleinen Dorf in der Nähe von Barcelona deswegen hänseln, bekommen sie eine auf die Nuss. In Strumpfhosen will er aber sicher nicht tanzen, das sorgt für Kämpfe und Streit. Enrique setzt sich durch und tanzt meist in Fußballshorts. Mit zwölf Jahren möchte er seine erste  Ballettaufführung sehen: Romeo und Julia. Seine Mama näht ihm einen Anzug. Neugierig geht er zur Aufführung. Mama und Papa warten vor der Tür, die Karten sind nämlich recht teuer. Nach der Vorführung stehen alle rund um ihn auf und spenden tosenden Applaus. Der junge Bursch ist schwer beeindruckt, geht raus und sagt zu seinen Eltern: „Das kann ich auch, das wird mein Beruf.“ Disziplin zeigt Enrique weiterhin nur beim Tanzen, in der Schule läuft’s schlecht.

Für kurze Zeit wird er sogar in eine Klasse für Kinder mit Handicaps gesteckt. Mit 13 Jahren bricht er die Schule schließlich ab. Sein Papa ist streng und besteht darauf, dass er künftig nicht nur Ballett tanzt, sondern auch sein eigenes Geld verdient. Ein befreundeter Diskothekenbesitzer kommt auf die Idee, dass er bei ihm kellnern kann und nebenbei für die Gäste tanzen. „Also war ich dann so was wie ein Go-go-Tänzer. Ich habe gleich behauptet, dass es dazu auch weibliche Go-go-Tänzer brauche, am besten im Stringtanga“, erklärt Enrique mit spitzbübischem Grinsen und genehmigt sich noch einen Schluck Bier.

DIE KARRIERE.

Enrique tanzt jetzt jeden Tag, nachts in der Diskothek, tagsüber in der Ballettschule, zwischendurch, ist sein Papa der Meinung, kann er noch Geld verdienen beim Pferdeversorgen. Bald geht es dann darum, dass Enrique an einer der besten Ballettschulen Spaniens eine Ausbildung bekommt. „Die Schule war sehr teuer. Ich habe angeboten, dass ich nach dem Training noch putze, aber zum Glück ging’s mit einem Stipendium“, erklärt Enrique. Mit 16 Jahren verlässt er also zum ersten Mal sein Zuhause und übersiedelt nach Saragossa. Er sollte nicht mehr wirklich nach Hause zurückkommen.

„Einige Jahre habe ich immer freitags um 21.30 Uhr meine Eltern angerufen, später war ich dann oft im Sommer einen Monat zu Hause, aber ansonsten war ich ständig weg“, erklärt Enrique. Sein Vater, ganz Zahlenmensch, hat mal ausgerechnet, dass er seit seiner Jugend nicht mehr als 23 Monate zu Hause war. Mit 18 Jahren fliegt Enrique nach Kuba. Er bekommt als einziger Spanier das begehrte Stipendium für eineinhalb Jahre Tanzausbildung in Havanna. Die Escuela Nacional Cubana de Ballet hat viele der berühmtesten Balletttänzer der Welt hergebracht. Enrique schließt sein Studium mit Auszeichnung ab und tanzt sich dann durch die größten Bühnen der Welt. „Ich habe das Glück, gute genetische Voraussetzungen für einen Balletttänzer zu haben, dazu eine große Musikalität“, erklärt Enrique seinen Erfolg.

Manche Momente vergisst er trotz des vielen Trubels nie. Ausnahmsweise ist sein Vater, der nicht reisen mag, bei einer Aufführung in Mannheim mit dabei. „Am Ende der Vorführung war so eine Menschentraube um mich rum, ich habe mir meinen Weg durch die Menschen gebahnt, und mein Vater hat mich das erste Mal in meinem Leben umarmt. Meine Mama stand daneben und hat ihren Augen nicht getraut“, erzählt Enrique. Sein Papa hatte das Asperger- Syndrom und ist letztes Jahr verstorben. Zeitlebens war er verblüfft über den Beruf seines einzigen Kindes. Nach Enriques erster Aufführung in Innsbruck als Choreograf und Ballettdirektor hat er gemeint: „Aha und dafür bekommst du Geld?“

DIE NEUE HEIMAT.

In Innsbruck wurde aus Enrique dem Tänzer Enrique der Choreograf und Ballettchef und später auch: Enrique der Ehemann. Er sorgt für ausverkaufte Vorstellungen. Standing Ovations gibt es nach fast jeder Aufführung. „Das große Glück in meiner Karriere als Tänzer war die Zusammenarbeit mit den besten Leuten, das hilft mir jetzt sehr.“ Enriques Tanzsprache ist eine expressive. Seine Tanzstücke sind körperlich sehr fordernd und oft akrobatisch. Das kommt gut an. Enrique pflegt zum Innsbrucker Publikum eine enge und herzliche Beziehung. Immer wieder sprechen ihn Menschen auf der Straße an und geben ihm Feedback. „Mein Ziel ist es, Menschen zu berühren und Gänsehaut zu erzeugen, ich denke, das ist mir oft geglückt.“

Enrique sieht sich als Glückskind und inzwischen als „Tiroler Bua“, wie er grinsend erzählt. Warum er dennoch ein wenig melancholische Züge hat, lautet die Frage. „Vielleicht weil ich mich schon oft von Menschen verabschieden musste. Was meinst du, wie oft ich mich schon von Tänzern und Tänzerinnen verabschiedet musste.“ Ständig neu beginnen, ständig neue Menschen, die Konstanz hat in Enriques Leben immer ein wenig gefehlt. Deswegen möchte er auch nach dem 9. Juli in Innsbruck bleiben. Der 9. Juli ist sein letzter Arbeitstag am Tiroler Landestheater. Irene Girkinger, die neue Chefin des Tiroler Landestheaters ab 2023/24, besetzt sämtliche Führungsposten neu. „Ein normaler Vorgang im Theater, es war nur im ersten Moment überraschend für mich“, meint Enrique. Die Empörung über seine Ablöse war beim Publikum dennoch groß. Sogar Unterschriftenlisten und Petitionen wurden gestartet. „Mein letzter Tag wird ein Tag mit Cola-Rum“, lacht Enrique, schaut aber gar nicht fröhlich. Angesprochen, welche beruflichen Möglichkeiten er in Tirol hat, kommt der „OperettenSommer Kufstein“ ins Spiel.

Hier bringt er auch heuer wieder sein Können als künstlerischer Leiter ein, dieses Mal bei „Jesus Christ Superstar“. Aber auch abseits des Balletts könnte sich Enrique das ein oder andere Projekt vorstellen, hüllt sich dazu aber noch lieber in Schweigen. Bei der abschließenden Frage, wem er in seinem Leben am meisten zu verdanken hat, muss Enrique nicht lang nachdenken: seiner Mama, Gracias. Denn die ließ sich nie abbringen von der Idee: „Der Bub muss zum Ballett.“

Zur Person

Enrique Gasa Valga wurde in Barcelona geboren. Er begann seine Ballettausbildung an der spanischen Ballettschule von Maria de Avila/Zaragoza; danach folgte ein Stipendium an der Escuela Nacional Cubana de Ballet sowie ein Engagement als Tänzer beim Kubanischen Nationalballett. 1998 wurde er beim Scottish Ballet engagiert, bevor er 2001 zum Ballett des Nationaltheaters Mannheim und 2003 zum Ballett des Staatstheaters Karlsruhe wechselte. Seit 2002 folgten weltweite Einladungen zu Galaabenden. 2003 wurde er Mitglied der Tanzcompany des Tiroler Landestheaters, 2009 Ballettdirektor. Mit der Saison 2022/23 endet sein Vertrag am Tiroler Landestheater.

06. Februar 2023 | AutorIn: Denise Neher | Foto: Franz Oss

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